Bei einem Blick auf die Landkarte Kanadas gelangt man zu einer trivialen Einsicht, konnte es nämlich schon vorher ahnen: Die Produktion klassischer Werke seit dem 19. Jahrhundert und Neuer Musik im Anschluss an elektroakustische Experimente sowie diverse Avantgarde-Strömungen im 20. mit Fortsetzung konzentriert sich in den südöstlich gelegenen Städten, die einmal zu den ultimativen Ballungsräumen gehören, in denen also die meisten Menschen leben und die vor allem die längste „weiße“ kulturelle Tradition aufweisen, mithin: Toronto, Toronto und … Toronto. Auch aus dem Südwesten des vergleichsweise riesigen Landes gibt es immer etwas Neues zu berichten, doch sind aus dem dünn besiedelten Nord(west)en eher selten kunstmusikalische Nachrichten zu hören.

Ottawa fällt als eigentliche Hauptstadt in dieser Statistik etwas zurück, weil sich dort keine Toronto gleichrangige „Schule“ entwickeln und eine ähnlich namhafte Musikerschmiede hervorbringen konnte und auch die Geschichte des öffentlichen Konzerts nicht so weit zurückreicht. Hinzu kommen weltweite Einflüsse aus Europa, den USA, Mittelamerika und Asien. Da wo viele Menschen leben, sind auch Sonderwege im künstlerischen Schaffen möglich, da Interesse und Kaufkraft vorzufinden sind. Selbst Québec und Montreal werden dabei auf den zweiten Platz verwiesen, das westliche Calgary spielt dahinter aber auch eine gewisse Rolle.
Immerhin verbrachte aber der später kanadaflüchtige Amédée Tremblay (1876 – 1949) einen Gutteil seiner jungen Schaffensjahre, nämlich 26 Jahre in Ottawa: Dies hing mit seiner dortigen Stellung als Organist zusammen, denn er war für eine der größeren Kirchen, die Basilika Notre Dame zuständig, bevor er weit in Richtung Westen nach Salt Lake City im US-Bundesstaat Utah abwanderte und schließlich für über zwanzig Jahre in Los Angeles an der katholischen St.-Vincents-Kirche weiterwirkte. Unsteter verhielt sich der gefragte Chopin-Klavierinterpret Ernest Dainty (1891 – 1947): Der gebürtige Londoner „tingelte“ als Pianist durch ganz Kanada, sprach dabei auch der Kammermusik zu und dirigierte das General Electric Orchestra des kanadischen Rundfunks. Schließlich zog ihn aber wie viele andere der Magnet Toronto an, wo er um die zwanzig Jahre gleichermaßen als Komponist agierte: So kam etwa das im Zweiten Weltkrieg weitverbreitete Lied Carry On aus seiner Filmmusik zu dem Streifen Carry on Sergeant von 1928 aus seiner Schreibtischschublade.

Ein Faible für modern(st)e Orchester- und Kammermusik auf der Basis einer sehr soliden elektroakustischen Ausbildung mit Pierre Schaeffer in Paris bewies die im Bundesstaat Québec geborene spätere Pianistin Micheline Coulombe Saint-Marcoux (1938 – 1985), die sich im Laufe ihrer Studien zunehmend auf Musiktheorie verlegte. Ihre originellen Kompositionen wie Modulaires für Orchester und Ondes Martenots, Trakadie für Perkussion und Tonband oder Miroirs („Spiegel“) für Cembalo und Tonband stehen im Zusammenhang mit der Gründung der Gruppe GIMEP und anschließenden Konzertreisen durch Kanada, Europa und Südamerika sowie mit den Aktivitäten des Ensembles Polycousmie in Québec, in dessen Programmen sich Tanz, elektronische Musik und Schlagwerk verbinden sollten.
Ebenfalls auf der nach Südwesten gerichteten perlenschnurartigen Linie der vier „heimlichen Kulturhauptstädte“ Québec – Montreal – Ottawa – Toronto bewegt sich auch Saint-Marcoux‘ Fachkollegin Ruth Watson Henderson (geb. 1932), die auf ihren Reisen als Konzertpianistin weiter westwärts, nämlich nach Winnipeg kam. Sie engagierte sich besonders für die Kirchenmusik und schrieb zahlreiche Gebrauchswerke für Chor und Orgel, für letztere auch die bekannter gewordene Chromatic Partita. Für Voices of Earth (1992) erhielt sie den National Choral Award. Überwiegend blieb sie sowohl dem kanadischen Rundfunk CBC als auch der Metropole Toronto treu.

Ganze zwei Generationen jünger ist der aus dem westlichen Bundesstaat Alberta stammende John Bouz (geb. 1983). Bereits als Kind komponierte er viel für Klavier und gewann bei zwei wichtigen Wettbewerben einen ersten und zweiten Platz. Seine Werke, die überwiegend Klavier-, Orgel- und Kammermusik verschiedener Couleur umfassen, zeichnen sich durch die Verwendung aleatorischer und serieller Techniken aus. In seiner Heimatstadt Sundre arbeitet Bouz als Organist an einer katholischen Kirche, war aber immer wieder im nicht wekit entfernten Calgary als Konzertorganist zu hören; an der dortigen Universität erregte er mit dem Stück Eclipse aus seinem Sun Cycle von 2001 Aufsehen.
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