Tücken der Mensuralnotation

Um 1240 herum begann sich in der Aufzeichnung von Musik ein System herauszubilden, nach dem die unterschiedlichen Notenwerte von deren individueller graphischer Form gesteuert wurden. Nicht überall verwendeten Komponisten, Chorpraktiker und Kantoren dieselbe Schreibweise: Zum Beispiel entwickelte sich im italienischen Trecento ein separates System mit acht unterschiedlichen Teilungen der „einzeitig“ gemessenen Brevis, die man mit dem heutigen Zählwert 1/2 beschreiben würde, auch wenn dies über die tatsächliche Dauer nichts aussagt. Sie wurde unter anderem von dem Theoretiker Marchettus de Padua beschrieben. Um ein bisschen tieferzugehen: Der in der Regel als Quadrat aufgeschriebenen Brevis und der im Zeitwert darüberliegenden Longa gegenüber ist etwa eine Duplex Longa zweizeitig. Für alle Notenwerte stellt die Longa perfecta den Bezugspunkt dar, aus dem sich die tatsächlichen Längen ergeben.

An der Zeitenwende von der Ars Antiqua zur Ars Nova steht der Roman de Fauvel, in dessen musikalischer Ausgestaltung durch Philippe de Vitry die ersten Beispiele für kolorierte Noten (farbige Mensuralnotation) zu finden sind (Original: Bibliothèque nationale de Paris, CC-Liz.).
An der Zeitenwende von der Ars Antiqua zur Ars Nova steht der Roman de Fauvel, in dessen musikalischer Ausgestaltung durch Philippe de Vitry die ersten Beispiele für kolorierte Noten (farbige Mensuralnotation) zu finden sind (um 1316; Original: Bibliothèque nationale de Paris, CC-Liz.).

Je weiter man hier vordringt, desto komplexer wird die Materie. Wie lange tatsächlich jede einzelne Note zu singen ist, hängt von den nicht auf Anhieb erkennbaren (Zeit-)Proportionen innerhalb des einzelnen Satzes ab. Das macht es für Ensembles, die sich auf Alte Musik des Mittelalters spezialisiert haben, natürlich schwierig und es ist keineswegs selbstverständlich, immer die stimmig(st)e Lösung für eine Aufführung zu finden.

Trotz der heute als vertrackt geltenden mittelalterlichen Musiknotation kann man sich jedenfalls merken, dass die erste schlüssige Beschreibung der gesamten gebräuchlichen Mensur um 1260 von Franco von Köln geliefert wurde. Dreiteiligkeit einer Note bezeichnete demnach die Perfektion, Zweiteiligkeit die Unvollständigkeit. Ein Drittel einer Perfectio, die Brevis recta, wurde von Franco in der Konsequenz als das „Tempus“ schlechthin definiert. Man könnte versucht sein, in der Dreizahl die Trinität der kirchlichen Lehre versinnbildlicht zu sehen. Doch ist dies fehl am Platz: Da die Musik im Quadrivium zu den mathematischen Fächern zählte, folgt sie mehr dem pythagoreischen Ordnungsschema von Anfang, Mitte und Ende, richtet sich hier also nach antiken (theoretischen) Mustern.

Johannes de Muris' Proportionsschema für die Notenwerte im 'Libellus cantus mensurabilis' (um 1340, US p.d.).
Johannes de Muris‘ Proportionsschema für die Notenwerte im ‚Libellus cantus mensurabilis‘ (um 1340, US p.d.).

Schon 60 Jahre nach Francos von Köln erster Ordnung des Notenwertchaos‘, in den Jahren 1320 bis 1321, brachten Philippus de Vitry und Johannes de Muris die für den neuen Stil der Ars nova zwingende andere Mensuralnotation ans Licht der (gelehrten) Öffentlichkeit. Drei- und zweizeitige Noten wurden außer im Fall der Minima, Semiminima und Maxima, die grundsätzlich zweizeitig blieben, auf Augenhöhe, also gleichrangig behandelt. Jeder Satz oder Abschnitt eines Werks wurde nunmehr von Mensurzeichen eingeleitet, die eine bestimmte Kombination von Zwei- und Dreizeitigkeit anzeigten. Diese waren in vier mögliche Grade – zum Beispiel Notenwertgruppen aus Maxima und Longa oder nur Maxima-Abfolgen – eingeteilt, so dass die Ausführenden in der damaligen Praxis nicht unbedingt überfordert waren. Die heutigen Herausforderungen von Klavierdiplomanden bei der Beherrschung schneller Stücke in entlegenen Tonarten wie Ges-Dur im Vom-Blatt-Spiel könnten im Vergleich hierzu noch höher liegen.

Philippe de Vitrys 'Ars nova musicae' dokumentiert in der Musikgeschichte des "Abendlands" einen entscheidenden Wandel (ca. 1320, US p.d.).
Philippe de Vitrys ‚Ars nova musicae‘ dokumentiert in der Musikgeschichte des „Abendlands“ einen entscheidenden Wandel (ca. 1320, US p.d.).

Erst im 15. Jahrhundert, als Papier Pergament zu ersetzen begann, wurde im übrigen die Schreibung von hohlen Noten gegenüber den bisherigen gefüllten üblich – was aber nicht auf die Semiminima (1/16), Fusa (1/32) und Semifusa (1/64) galt; bei letzteren schwankte man noch bis ins 16. Jahrhundert zwischen Leerlassen und Ausfüllen. Interessant ist der Wandel bei der Rundung der Noten, die handschriftlich schon im 15. Jahrhundert zur Norm wurde, während sie im Druck erst gegen Ende des 17. Jahrhunderts (!) eingeführt wurde. Eine Präsentation in quaderförmigen oder quadratischen Noten findet sich noch in alten Liederbüchern und wird in den Kirchengesangsbüchern dort, wo Introitus und Psalmodien stehen, bis heute angewandt.

Die kleinsten Notenwerte nach der Mensuralnotation der Ars Nova: die Semifusae (1/64-Noten; 4/4-Takt), hier in Gruppenbildung dargestellt (semifusas unidas; GNU Free Doc. Lic.).
Die kleinsten Notenwerte nach der „Mensur“ der Ars Nova in moderner Notation: die Semifusae (1/64-Noten; 4/4-Takt), hier in Gruppenbildung dargestellt (semifusas unidas; GNU Free Doc. Lic.).

Als profilierteste Werke in der Mensuralnotation der Ars Nova gelten neben wenigem anderem die vier- und dreistimmigen Messsätze von Guillaume de Machaut von der Mitte des 14. Jahrhunderts, obwohl dessen Verdienst um Ballade, Virelais, Rondeau und Chace als erste Beiträge zur Aufzeichnung weltlicher Musik in Europa vielleicht noch höher zu schätzen ist. Erst zur Zeit von Monteverdis Oper Orfeo wurde die beinahe 350 Jahre vorherrschende Mensuralnotation ganz aufgegeben, da nun, um das Jahr 1600, alle Notenwerte ausschließlich auf Zweizeitigkeit normiert worden waren.

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