Ob es gerade die zahlreichen Frömmigkeitsbewegungen in den USA waren, die bestimmte Genres auch in der Musik zwischen den beiden Weltkriegen begünstigten? Oder entschieden ebenso parareligiöse Bewegungen wie Steiners Anthroposophie, die im englischsprachigen Raum insgesamt nicht eben eine geringe Rolle spielte, darüber, welche Art von Musik en vogue zu sein hatte? Jedenfalls fällt auf, dass sich um 1900 und über Dekaden hinweg die Kantate insbesondere geistlicher Prägung großer Beliebtheit erfreute. Sie stellte auch das präferierte Ausdrucksmittel der Komponistin Mary Elizabeth Caldwell dar, die am 1. August 1909 zu Tacoma im Bundesstaat Washington zur Welt gekommen war.

Mary Caldwell interessierte sich überwiegend für die ja allenfalls teilszenische Form der Kantate zu biblischen Themen. Der Weihnachtszeit widmete sie sich mit Vorliebe, woraus sowohl The Road to Bethlehem als auch What the Star Saw und Let Us Follow Him hervorgingen. Gerade die populären Lieder zum Fest von Christi Geburt zogen sie in ihren Bann, weshalb sie diese in ihre Chorkantaten häufig einbezog. Dafür gab es allerdings durchaus einen konkreten kirchlichen Bezug, denn der Mormon Tabernacle Choir nahm Caldwells Weihnachtsmusik nicht grundlos in sein Repertoire auf, da sie sich für die Aufführungen vor und mit „ihrer“ Mormonengemeinde besonders gut eigneten. Neben Weihnachten spielte Ostern im Jahreslauf eine größere Rolle für die in Berkeley, am Münchener Konservatorium und an der Juilliard School of Music in New York ausgebildete Komponistin: So entstand die Kantate Of Time and Eternity. Ende der 1950er Jahre wandelte sich ihr künstlerischer Anspruch an sich selbst jedoch grundlegend …
Etwa von 1960 an widmete sich die schließlich insgesamt über fünfzig Jahre als Kirchenorganistin wirkende Mary Caldwell auch größeren weltlichen Formen des Musiktheaters wie der Oper. Als Zwischenstufe auf dem Weg dorthin kann das „liturgische Drama“ In the Fulness of Time aufgefasst werden, das direkt für eine Aufführung im gottesdienstlichen Rahmen vorgesehen war. Doch griff sie in ihren Chor- und Solistenwerken auch gänzlich andere Themen auf; so schrieb sie die patriotische Kantate The Freedom Song, der damit durchaus ein politischer Charakter attestiert werden konnte.

Die schon durch das Amt bestehende Dauerverbindung zur Gemeinde und den Möglichkeiten, die zunächst der kirchliche Raum zur Verfügung stellte, blieb für sie weiter wichtig, als sie drei Kinderopern, die außerdem auf weltliche Sujets Bezug nehmen, ausarbeitete. Denn A Gift of Song, The Night of the Star und Pepito’s Golden Flower gingen kaum auf einen persönlichen Einfall zurück, sie waren von der im Jahr 2016 das neunzigjährige Jubiläum feiernde Pasadena Junior League in Auftrag gegeben worden. Bei dieser handelt es sich um eine Wohlfahrtsinstitution für Jugendliche mit einem exzellenten Angebot aus Lern- und Freizeitaktivitäten.
Caldwells anhaltende Faszination für die (klang-)farbenfrohe religiöse Feier fand ihren Ausdruck auch in der Oper: In A Gift of Song wird die Entstehungsgeschichte von Franz Grubers allseits bekanntem „Carol“ Stille Nacht, heilige Nacht nachgezeichnet. Dieses Thema war so durchschlagend, dass das für Kinder bestimmte Musikdrama weltweit erfolgreich in Szene gesetzt wurde. Auf Mary Caldwell selbst, die 2003 vierundneunzigjährig in den USA starb, gehen neben den Chorkompositionen zudem etliche Stücke für Sologesang und Werke für ihr ureigenes Instrument, die Orgel, zurück.
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