Beim neueren Jukebox-Musical handelt es sich um ein Phänomen, das sich in den letzten zwanzig Jahren auch in anderen Bereichen öffentlicher Kunst beobachten lässt: Nicht mehr wird ein etwa etablierter Stil, wie er hier für die West Side Story oder noch Das Phantom der Oper repräsentativ sein mochte, weiterentwickelt, sondern jeder Komponist bedient sich seiner eigenen Sujetwahl und Idiomatik. Angesichts von Titeln wie Mamma Mia!, We will rock you, Hinterm Horizont und Priscilla, Queen of the Desert beschleicht einen jedoch eher der Eindruck, dass geradlinig nach dem Prinzip der klingelnden Kassen vorgegangen wurde, indem man einfach die größten Nummern des vergangenen Jahrhunderts unter dem Vergrößerungsglas zu einem rosaroten abendfüllenden Event mit durchgehender Storyline aufpeppte. So waren beim Publikum keinerlei Reibungsverluste zu befürchten, ältere und jüngere Theater- wie Konzertbesucher konnten gleichermaßen ins Boot geholt werden.

Dabei gilt schon für die früheren Jahre von Stephen Sondheim, den derzeit wohl bedeutendsten US-amerikanischen Musicalschöpfer, dass die dramatische Anlage eines Bühnenstücks hinter der Leitidee zurückstehen sollte, wie es das 1970 erstmals hier erprobte Konzept von Company zeigt. In eine ähnliche Richtung bewegte sich Marvin Hamlischs A Chorus Line nur fünf Jahre später; es ist mit bislang weit mehr als 6000 Aufführungen das erfolgreichste Musical überhaupt. Demgegenüber wiesen Produktionen wie Lloyd Webbers Cats, Les Misérables und Miss Saigon (diese natürlich im erfolgverheißenden Rekurs auf Puccinis Madame Butterfly) Züge der Oper bei gleichzeitiger Neigung zum aufwändigen großen Spectaculum auf.

Die Kosten waren dabei durch entsprechend erweiterte Vertriebskanäle zu kompensieren: Die Mitschnitte oder Studioaufnahmen erschienen rasch auf Vinyl, dann CD, Videotape und DVD. Wie überhaupt für die amerikanische Genregeschichte seit dem 20. Jahrhundert charakteristisch lieferte ein Film die Vorlage für die Theater- oder Musicalproduktion: Beispielhaft seinen nur Harry Warrens 42nd Street von 1980, The Lion King (1997) und The Color Purple (2005) genannt. Der Jukebox-Trick schließlich bestand darin, die- (weiterhin – populärsten Hits in eine zu diesem Zweck erfundene Handlung geschickt einzubetten.
Wieder eine andere Richtung des Musicals näherte sich in der dramatischen Gestaltung und literarischen Qualität des Librettos weitgehend der Oper und Operette an: Hier wären nicht nur Jerry Bocks The Fiddler on the Roof (Anatevka) und sein Wurf She loves Me nach der Komödie Parfümerie von Miklós László zu nennen. Auch Mitch Leighs Der Mann von La Mancha aus dem Jahr 1965 gehört – fast 250 Jahre nach Joseph de Bodin Boismortiers parodistischem Singspiel Don Quixote chez la duchesse – in diese Kategorie. Auf einem leichteren komödiantischen Stoff basierte auch schon Ira und George Gershwins Lady, Be Good aus der Frühzeit des Musicals um 1924.

Stephen Sondheims Vorlagen und deren Umsetzung in Musik adelten gewissermaßen das sonst gerne mit dem Attribut des Kitschigen versehene Bühnengenre. Sein Sunday in the Park with George (1984) beruht auf dem Eindruck eines existenten Bildes des postimpressionistischen Malers Georges Seurat. Dessen Enkel, der ebenfalls Künstler geworden ist, kann eine gravierende Schaffenskrise erst dadurch überwinden, dass er die Insel besucht, auf der sein Großvater das Gemälde Ein Sonntagnachmittag auf der Insel La Grande Chatte schuf. Das Musical wurde in New York 1984 erstmals aufgeführt und wurde schon kurze Zeit später mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichnet; es erlebte mehr als 600 „Vorhänge“.
Das auf einem fiktional ausgestalteten Balladenstoff beruhende Musical Sweeney Todd, das bekanntlich erst 2007 von Tim Burton verfilmt wurde, bezeichnete Sondheim selbst als tiefschwarze „Operette“. Etwas neueren Datums ist seine dramaturgisch ausgearbeitete Collage aus Motiven von den Märchen der Brüder Grimm unter dem Titel Into the Woods (1971); das Stück wurde in Deutschland 1991 und in Frankreich erstmals 2013 aufgeführt. Alle, die einmal die Live-Atmosphäre der Musical-Theater am Broadway erleben möchten, seien auf die Aufführung von Irving Berlins Holiday Inn im Studio 54 ab 1. September und auf Kristen Anderson-Lopez‘ In Transit im Circle des Square Theatre ab 10. November 2016 hingewiesen.
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