Auf einem seiner wenigen öffentlichen Fotoporträts wirkt Virgil Thomson sehr ernst und angestrengt wie nach einem 11-Stunden-Arbeitstag, was seine abwechslungsreichen Kompositionen, namentlich diejenigen von den späten 1940ern bis in die 1960er Jahre, nicht eben widerspiegeln. Vielmehr verstand es der Harvard-Absolvent schon bald nach seiner Studienzeit in Paris bei Nadia Boulanger Schlaglichter hintergründigen Humors auf originär amerikanische Genres und Lieder zu projizieren und dabei auch gelegentlich derb und plakativ auf die Pauke zu hämmern. Im nächsten Moment erscheint alles wieder in ein warmes lyrisches Licht getaucht. In der Suite The Plow that Broke the Plains wechseln polyphon belebte Cowboylieder wie Cattle mit Saxophonpassagen in Blues und elegisch-romantischen Szenerien, die in ihrem Charakter die Ausrichtung an französischen Vorbildern verraten mögen; nicht umsonst hatte der Organist Virgil Thomson einen besonderen Hang zur Musik von Erik Satie, zumal diese nicht für ein Massenpublikum kalkuliert war.

Was aber faszinierte den amerikanischen „Kontaktmann“ der Groupe des Six in Paris und den späteren Musikkritiker des New York Herald Tribune gerade an der Harfe, der er 1964 sein Concertino Autumn widmete, das offensichtlich auf seinem Faible für Natur und wilde Landschaft in Musik beruhte? Wirft man einen Blick in die Musikgeschichte der Vereinigten Staaten, so wird schnell deutlich, dass es sich bei der Konzertharfe nicht um das dortzulande von Komponisten klassischer Provenienz bevorzugte Soloinstrument handelte.
Dabei ist ansonsten eine erstaunlich hohe Popularität der Harfe im amerikanischen Kulturleben festzustellen: Bei The Sacred Harp handelt es sich um eine spezielle Kompositions- und Aufführungspraxis kirchlich-liturgischen Chorliedguts, das auf ein Gesangsbuch gleichen Titels zurückgeht. 1962 wurde die mittlerweile bedeutende American Harp Society gegründet, die Wettbewerbe auf internationalem Parkett vorzugsweise mit korrespondierenden europäischen Vereinigungen veranstaltet.

Vom 16. bis 18. September 2016 findet der Montana Harp Retreat in Missoula statt, im Mai 2017 widmet das Event The Harp Gathering in Northwest Ohio dem weit in die Kulturgeschichte der Menschheit zurückreichenden Saiteninstrument einen vier Tage dauernden Wettstreit. Schließlich handelt es sich bei der kuriosen Mischform der Gitarrenharfe ebenso um eine ursprünglich amerikanische Erfindung. Populär sind nicht nur in New York und vergleichbaren Megastädten neben der klassischen die Jazz- und die Country-Harfe mit jeweils eigenem und sich weiterentwickelndem Repertoire. Legendär wurde im 20. Jahrhundert die Bebop-Harfenistin und Komponistin Dorothy Ashby.

Anlass für Thomsons beliebtes Harfen-Concertino, an dem Streichorchester und Perkussionsinstrumente beteiligt sind, war allerdings seine Verehrung für den internationalen spanischen Harfenstar Nicanor Zabaleta, dem die Sätze Dialogue, Love Scene und Promenade gelten. Sie sind jedoch nicht originär für die Harfe komponiert, sondern basieren auf Thomsons zweiter Klaviersonate, während der erste Satz Salute to the Wind auf ein Porträt der Sängerin Marya Freund zurückgeht. Muntere folkloristische Töne schlägt Ann Mason Stockton auf ihrer Harfe gemeinsam mit dem Xylophonisten in einer mit spanischer Rhythmik befeuerten Promenade an. Hier entführt der Komponist den Hörer in eine Welt der tanzenden Blätter.

Die träumerisch verstreuten Harfenklänge in Dialogue und Love Scene passten offenbar zur Imagination einer herbstlichen Szenerie, könnten aber auch eine nahe Assoziation zur porträtierten Sängerin darstellen. Schon der Eingangssatz Salute to the Wind lässt aber in seiner akkordisch geprägten harmonischen Durchführung wieder an Zabaletas Heimat Spanien, vor allem an Joaquín Rodrigo und die zeitlich weit ausgreifende Sanz-Tradition denken.
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