Da „alles fließt“, auch die Zeit, kann man zur These, nach der die fädenziehenden Akteure der digitalen Gesellschaft ihre Errungenschaften und Durchsetzungen zugespitzt als mediale Revolution feiern, verschiedene Meinungen haben; nicht zuletzt war diese ohne Johannes Gutenbergs Vorleistung auch nicht denkbar. Der Mensch wird sich in seiner Natur ohnehin der bloßen Messbarkeit und Definition durch Nullen und Einsen, durch Bits und Bytes entziehen. Maschinen wie Computer müssen schließlich von emotional flexiblen intelligenten Individuen kontrolliert und gewartet werden. Und auch, wenn Steve Jobs tatsächlich – wie es Volker David Kirchners einaktige Oper Gutenberg suggeriert – von der Notwendigkeit einer bloßen Fehlerbehebung zum Zweck einer glücklichen Zukunft der Menschheit gesprochen haben sollte, so wäre dies nur eine Position unter vielen, die Medienmacher und ihre Entscheidungsträger heute beziehen.

Der Missbrauch von Macht durch biologisch gesteuerte Wesen hingegen schwebt dabei jederzeit als Damoklesschwert über der Welt. Und als solche dürfte auch Johannes Gensfleisch alias Gutenberg, über dessen Leben wir insgesamt wenig wissen, die Regierung von Duodezfürsten, des Mainzer Erzbistums und der Stadtobrigkeiten erfahren haben. Dennoch war er offenbar auch maßgeblicher Akteur auf verschiedenen Seiten, was seine Durchsetzung der Schuldhaft des Mainzer Stadtschreibers zum Zweck der Einforderung von Rentenzahlungen seitens seiner Geburtsstadt ebenso zeigt wie eine geschickte Vorfinanzierung der Druckerwerkstatt. In der Oper des ehemaligen Orchesterbratschisten Volker David Kirchner, der selbst aus Mainz stammt, sich bislang allerdings auf außereuropäische Musik in seinem Schaffen als Komponist konzentrierte (man denke an Riten und Gilgamesh), erscheint der geniale Erfinder der Druckerpresse jedoch mehr als Leidender an seiner Zeit – ein Aspekt, dem bisher nicht genügend Beachtung geschenkt wurde.

Martina Vehs Kopplung des Gutenberg-Musikdramas mit einer elektronischen Lichtperformance über Sinngenerierung, Herrschaft und Unsinn des digitalen Zeitalters erweist sich in dramaturgischer und musikalischer Hinsicht als geschickte Zusammenführung zweier Themen, die per se Schnittmengen aufweisen. Denn in beiden steht die mediale Durchdringung des Alltags im Vordergrund. Gutenbergs „Revolution“ galt sicher vielen Zeitgenossen des 15. Jahrhunderts als diabolisch und kirchenfeindlich, da die massenhafte Produktion der Bibel „für alle“ dank der Maschine mit den beweglichen Lettern, des Gießgeräts und der verbesserten Farbmischung so erst möglich wurde. Gunnar Geisse illustrierte mit seinen elektronischen Klanggebungen auch für die Stimmen von Mezzosopranistin Katja Bildt als Neuberin und dem Sopran Daniela Gerstenmeyers eindrucksvoll die imaginierte totale Umsetzung der digitalen „Revolution“ im Alltag.

Gleichermaßen überzeugend spannte sich über den gesamten Freitagabend – zum fünften Mal seit der Uraufführung am 24. März – am Theater Erfurt die Video-Performance des Künstlerduos Torge Moller und Momme Hinrichs: Auf nebeneinander aufgestellten spanischen Wänden im Sinne eines Kinos im Theater lief die historische Vision von den Ausschnitten aus Gutenbergs Leben als animierter Schwarzweißfilm ab, hinter dem die realen Figuren, versetzt in Hospitalsphären des 20. und 21. Jahrhunderts sekundengenau in die Gegenwart heraustraten.
Siyabulela Ntlales Bassbariton setzte sich mit dramatischer Wucht und gefühlvoller Stimmigkeit auch in den lyrischen Passagen in Szene, Katja Bildts Spiel in den Rollen der Schwester, einer alten Frau und der Haushälterin zeugte neben hoher vokaler Ausdrucksvarianz (die auch Daniela Gerstenmeyers Sopran auszeichnet) von großer Einfühlsamkeit in die Figuren und Beweglichkeit.

Sehr authentisch wirkte Mark Pohl mit Apple-Apfel in der Rolle von Steve Jobs, unterstützt durch Christl Weins Ausstattung, die übrigens auch schon für Lars von Triers Film Dogville die Kostümierung schuf. Samuel Bächli dirigierte mit viel Gespür für die Einzelheiten der Partituren sowohl die Passagen aus Bachs Johannespassion und h-Moll-Messe zum ersten Teil des Abends und insbesondere zu Kirchners Gutenberg. Unnachahmlich bleibt das Philharmonische Orchester Erfurt unter seinen vielen anderen Vorzügen auch mit den sonor schimmernden Liegetönen der Streicher in höheren Lagen.
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