Wahre Poesie in Tönen

Sprunglebendig im eigentlichen Wortsinn eröffnete die amtierende Musikdirektorin des Salzburger Landestheaters, Mirga Gražinyte-Tyla, das 6. Sinfoniekonzert der Saison am Theater Erfurt mit der Ballettsuite Nr. 4 aus Mieczysław Weinbergs Ballett Burattino oder Das goldene Schlüsselchen. Die junge litauische Dirigentin ließ dem Werk des Warschauers seine manchmal schroffen Ecken und Kanten, die durch kurze rhythmisch prägnante Motiv- und Themenfloskeln mit Generalpause entstehen. Weinberg, der aus einer jüdischen Familie stammte, war 1939 vor den Nationalsozialisten und dem Krieg nach Minsk geflohen, weiter nach Taschkent, schließlich dank Schostakowitschs Einladung nach Moskau. Dieser setzte sich als Mentor wie als Freund für ihn ein, auch als er im Zuge der stalinistischen „Säuberungen“ 1953 verhaftet wurde, wegen des Todes des Diktators aber wieder freikam.

Wie in der Stuttgarter Liederhalle am 14. Juli 2014 begeisterte der russische Pianist Andrei Korobeinikov auch im Theater Erfurt am 8. Januar 2016 das Publikum (Andreas Praefcke, p.d.).
Wie in der Stuttgarter Liederhalle am 14. Juli 2014 begeisterte der russische Pianist Andrei Korobeinikov auch im Theater Erfurt am 8. Januar 2016 das Publikum (Andreas Praefcke, p.d.).

Nur ein Jahr nach diesen Ereignissen schrieb Weinberg die Ballettmusik zu Alexej Tolstojs Prosamärchen, das die Figur Pinocchios auf spezifisch russische Weise interpretiert. Für die Rhetorik des spielenden Erzählens hatte Weinberg ein Faible, denn nicht zufällig verfasste er auch Hörspiele und trug wenigstens sechzigmal zum Genre Filmmusik bei. Die expressive Seite des Komposition kam mit ihren unerwarteten Wendungen am gestrigen Abend dank des vehementen Einsatzes der Dirigentin entsprechend zur Geltung. Als Höhepunkt des Abends kann demungeachtet der mittlere Andante-Teil von Alexander Skrjabins Klavierkonzert in fis-Moll bezeichnet werden:

Der polnisch-jüdische Komponist Mieczyslaw Weinberg komponierte alleine 22 Symphonien und schuf die Ballettmusik zum Pinocchio-Märchen Burattino von Alexej Tolstoj (в источнике не указан classicalmusicnews.ru).
Der polnisch-jüdische Komponist Mieczyslaw Weinberg komponierte alleine 22 Symphonien und schuf die Ballettmusik zum Pinocchio-Märchen Burattino von Alexej Tolstoj (в источнике не указан classicalmusicnews.ru).

Die tonartliche Wandlung in Fis-Dur harmonisiert mit dem bewusst gestalteten „Lied“ in fünf Variationen, das der Skrjabin-Experte Andrei Korobeinikov mit großer Klarheit und Behutsamkeit – und dennoch in fließenden Kantilenen – am Steinway vortrug und das Klavier so zum über-sinnlichen Interpreten des unausgesprochenen lyrischen Texts erhob. Das Publikum dankte dem vielfachen Preisträger internationaler Wettbewerbe gerade hierfür mit großem Beifall. Als Zugabe folgte eine der kürzeren Sonaten des einst fast ausschließlich für das Klavier komponierenden Moskauers, der bekanntlich nicht wenige seiner „synästhetischen“ philosophischen Ideen auf sein Instrument übertrug (und so etwa für Prométhée das Farbenklavier erfand).

Akseli Gallen-Kallela (1865 - 1931) schuf das Gemälde vom toten Helden Lemminkäinen vor seiner Wiedererweckung. Die Geschichte des Schmieds aus dem finnischen Nationalepos Kalevala inspierierte  Jean Sibelius zu seiner (gleichnamigen) Suite aus den Jahren 1893 - 1895 (Ateneum Museum A I 640, p.d.).
Akseli Gallen-Kallela (1865 – 1931) schuf das Gemälde vom toten Helden Lemminkäinen mit klagender Mutter vor seiner Wiedererweckung. Die Geschichte des Schmieds aus dem finnischen Nationalepos Kalevala inspierierte Jean Sibelius zu seiner (gleichnamigen) Suite aus den Jahren 1893 – 1895 (Ateneum Museum A I 640, p.d.).

 

Aus musikdramaturgischen Gründen erlaubte sich Mirga Gražinyte-Tyla eine Vertauschung in der Handlungskette von Lönnrots Kalevala-Epos. Allerdings zeigte sie so viel Fairness, diese „kleine“ Änderung zuvor anzukündigen: In Sibelius‘ Lemminkäinen-Suite, die gemäß dem zugrundeliegenden Text von einer ebenso sehnsuchtsvollen wie von einer übermütig-burlesken Stimmung lebt, kann die Episode Der Schwan von Tuonela durchaus als ernsterer, lyrischer Gipfelpunkt interpretiert werden und so geriet er denn auch dank des einfühlsamen Englischhorn-Spiel des Solisten Raymond Undisz. Den ausladenden vierten Satz, in dem der Hörer den heimwärts stürmenden Helden Lemminkäinen vor Augen zu haben wähnt, zeichnet eine stufenweise aufgebaute dynamische Steigerung aus, die von Dirigentin und Orchester in mustergebender Form ausgekostet wurde.

Überhaupt zeichnete sich das Philharmonische Orchester Erfurt durch eine imponierende Geschlossenheit und gegenseitige Feinabstimmung selbst in den geteilten Instrumentengruppen aus, etwa innerhalb der Streicher und zwischen Holz- und Blechbläsern. Die schwierig zu realisierenden alternativen Spielweisen in den Violinen und Violen wirkten in dieser Interpretation geradezu federleicht. Besonders markant präsentierte sich das in der Symphonik ungewöhnliche Trio aus Harfe, tremolierender Trommel und Kontrabässen.

 

 

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