Da die Musik als abstrakteste aller Künste gilt, scheint der Versuch, die sie vertretenden Musen Euterpe und Erato erhaschen zu wollen, von vorneherein aussichtslos. Natürlich hat dies auch mit ihrer Flüchtigkeit in der Zeit zu tun – ein Kriterium, das allerdings auch auf andere „Kunstfertigkeiten“ wie Sprechen, Schauspiel und den Film zutrifft. In der Ethoslehre von Perikles‘ Musiklehrer Damon findet sich – wenigstens für Europa – zu allererst die Feststellung, dass Musik spezifische Wirkungen auf die menschliche Seele ausübe. Weil diese Kunst oder μουσική τέχνη im griechischen Altertum im Zentrum des öffentlichen Erziehungswesens stand, reagierten Intellektuelle wie zuständige Politiker verstimmt auf durchgreifende Veränderungen und verurteilten die Neue Musik des Philoxenos oder des Timotheos, die ein Spiel mit den hergebrachten Normen trieben, indem sie Tonarten miteinander mischten und den Rhythmus in ein und demselben Lied changieren ließen.

Oscar Wilde sah in der Musik in Analogie zu Gedanken über ihre Abstraktheit den vollkommenen Typus der Kunst, die „nie ihr letztes Geheimnis“ verrate. Es dürfte schwerfallen, dieses arbiträre Statement zu widerlegen. Gerade in der orchestralen Kunstmusik wird es offensichtlich, dass sie eine Verbindung zwischen Mensch und Natur schafft, deren Wesen wir zwar erforschen, aber voraussichtlich nie bis zum Grund (des Brunnens) ergründen können werden. Instrumentale Klänge wie in der abendländischen Orchestermusik chiffrieren eine Aussage, deren Bedeutung als in der Mathematik und in der Sprache unklar bleibt. Und dies auch, wenn wir erahnen wollen, welchen tieferen „bildhaften“ Sinn sie transportiert. Im Falle von offensichtlich unterlegten Programmen oder in der barocken Figurenlehre ist der Fall für Hermeneutiker einfach. Doch auch hier gibt es Unterschiede: So erhält etwa der Passus duriusculus in der Schilderung der Passion bei jedem Komponisten eine andere Klangfarbqualität, in der verschiedene Töne mitschwingen, wenn sie nicht gar die eigentliche undurchschaubare besondere Bedeutung transportieren.

Erst, wenn uns der Komponist jede Sequenz und Note deutet, falls er ihren jeweiligen Ort in seiner Partitur bewusst geplant hat, sind wir vollständig aufgeklärt. Beispiele hierfür sind aber kaum zu finden, denn sogar von scheinbar logisch eindeutig konstruierten Werken wie Palestrinas Motetten, Gesualdos Madrigalen oder Bachs Kunst der Fuge liegt keine (vollständige noch minutiöse) Beschreibung eines ausgearbeiteten Plans vor der Niederschrift vor. Dies wäre auch müßig, denn eine Ton- oder harmonische Klangfolge unterliegt auch dem Hörempfinden des jeweiligen Urhebers und damit einem rein ästhetischen, individuellen Geschmacksurteil. Warum Claudio Monteverdi die Eingangsfanfare seines Orfeo oder Howard Hanson die Motiv- und Themenbildung seiner Merry Mount Suite in eben dieser Faktur und Tonabfolge gefiel, lässt sich schwer sagen – und genauso wenig können wir erwarten, dass uns ein Zeitgenosse wie Krzysztof Penderecki jedes „melodische“ Intervall in seinem kürzlich entstandenen Konzert für Trompete und Orchester entschlüsseln könnte, selbst wenn er wollte.

Es lässt sich also behaupten, dass gerade die Tatsache, dass auch Komponisten nicht nur mit kaltem Verstand Noten zu Papier oder zu elektronischen Medien bringen können, weil jegliche Klänge eben nicht einfach etwas Verbalisierbares oder Bildhaftes bedeuten, eine völlige Auflösung des Kunstwerks verhindert. Häufig trieb auch eine mehr oder weniger kryptische Notation von Musik deren Abstraktion noch voran, man denke nur an die griechische Buchstabenchiffrierung oder die Neumenschrift seit dem ausgehenden Mittelalter. Unsere Holzblasinstrumente, besonders Oboe und Blockflöte, die mit ihrer langen Entwicklungsgeschichte bis auf die Zeit vor der Sesshaftwerdung des Menschen zurückgehen, machen uns noch heute deutlich, wie sehr Musik in einer unverstandenen, nur teilweise bezähmten Natur wurzelt. Gerade darum hat sie uns die Eigenschaft bewahrt, die Nachtseite von Wissenschaft und Rationalität, nämlich Chaos, dionysische Raserei, Empfindungen aller Arten und Leidenschaften weiterzuvermitteln.
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