Auf Augenhöhe mit Europas Musen

Der gesamte portugiesische Hof zog sich im Zuge des napoleonischen Eroberungszugs durch ganz Europa 1808 nach Rio de Janeiro zurück, sorgte damit aber für einen deutlichen Entwicklungsschub in Sachen Künste. Dass das brasilianische Regierungsintermezzo bereits 14 Jahre später sein Ende fand, bedeutete für die klassische Musik-„Szene“ erst einmal einen herben Rückschlag. Die nicht geringe Zahl bedeutender weiblicher und männlicher Komponisten nach der Mitte des 19. Jahrhunderts beweist aber, dass sich Opern- und Konzertbetrieb wieder erholt hatten und neue Impulse aus eigener Quelle erhielten: Die erste genuin brasilianische Oper A Noite de São João von Elias Álvares Lôbo erlebte 1860 ihre Uraufführung; bis heute ist A Guarani des aus Campinas stammenden Antônio Carlos Gomes auch in Europa ein Begriff, da das Musikdrama seine Premiere in der Mailänder Scala feierte.

Der brasilianische Komponist Alberto Nepomuceno bei einem Konzert und in seinem Element -  gemalt von Eliseu Visconti (1895, Istituto Histórico e Geográfico, Rio de Janeiro)
Der brasilianische Komponist Alberto Nepomuceno (1864 – 1920) bei einem Konzert – und in seinem Element – gemalt von Eliseu Visconti (1895, Istituto Histórico e Geográfico, Rio de Janeiro)

Im Jahre 1864 erblickten zwei musikalisch Privilegierte das Licht der Welt, der eine im Schatten der mit Kirchenmusik gesegneten Kathedrale von Fortaleza, der andere weit davon entfernt in São Paulo als Sohn jüdisch-französischer Einwanderer. Die Rede ist von Alberto Nepomuceno, dem späteren Pianisten und Dirigenten und Alexandre Lévy, dem ersten Komponisten, der den Samba in einem klassischen Werk, seiner Suíte Brasileira von 1890 nutzte. Beiden gemeinsam war der Rückgriff auf die reiche Folklore Brasiliens in ihren Werken, womit sie Anschluss an nationalromantische Schulen der europäischen Länder fanden. 1885 schockierte Nepomuceno akademische Lehrer und Publikum, indem er bei einem Konzert des Nationalen Musikinstituts Lieder präsentierte, die ausschließlich auf portugiesisch gesungen wurden – um zu zeigen, dass auch in dieser (vernachlässigten) Sprache der bel canto möglich war. Gerade der Organist aus Fortaleza baute über einen größeren Zeitraum in Europa seine Netzwerke aus und stand unter anderem mit Gustav Mahler, der ihn für die Wiener Oper engagieren wollte und Edvard Grieg in enger Verbindung. Eines seiner bekanntesten Werke blieb bis heute das in Berlin abgeschlossene 3. Streichquartett, von ihm selbst das brasilianische betitelt.

Der Pionier der populären brasilianischen Tanzmusik im klassischen Ressort: der als Pianist wie Dirigent erfolgreiche brasilianische Komponist Alexandre Lévy (A. Levy, p.d.)
Der Pionier der populären brasilianischen Tanzmusik im klassischen Ressort: der als Pianist wie Dirigent erfolgreiche brasilianische Komponist Alexandre Lévy (A. Levy, p.d.)

Der gleichermaßen rührige Alexandre Lévy ging gewissermaßen den umgekehrten Weg und begründete nicht nur einen Clube Haydn und einen Clube Mendelssohn zum Zweck klassischer Musikpflege in SãoPaulo, sondern machte sich im ganzen Vaterland einen Namen mit den Variações sobre um Tema Brasileiro, einer der ersten Kompositionen überhaupt, die auf die Musiktradition des eigenen Landes rekurrierten. Der spezifisch brasilianische Tango Maxixe fand in dem Pianisten, dem man eine große Solistenzukunft vorausgesagt hatte, seinen Meister. Sein romantischer Nationalismus veranlasste ihn immer wieder zu Kompositionen, vor allem für Klavier, die indigene brasilianische Tanzmusik und Folklore mit kunstmusikalischen Mitteln weiterzuführen suchten. Leider starb der aufstrebende Komponist, der auch als Dirigent erfolgreich war, viel zu früh schon im Alter von 27 Jahren. Seine Schumanneske Coeur blessé ist auf einer Einspielung mit dem Pianisten Arnaldo Cohen (BIS 2001, B00005RTIG) verewigt.

 

 

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