Im Winter holt die Natur Atem: Eine ideale Voraussetzung, um die leisen Töne in der Stille einer Landschaft etwa wahrzunehmen und sich nicht (nur) in der hektischen Welt städtischer Einkaufspassagen zu verlieren. Zwar ging es im Versailler Schloss zur Zeit von Louis XIV. vergleichbar turbulent zu, doch wollte Charpentier mit seiner geistlichen Musik ganz bewusst innere Einkehr bieten, die in einer Kapelle oder einem weiten Kirchenschiff die idealen Voraussetzungen für die klangliche Entfaltung selbst kleinerer Besetzungen finden konnte – und nicht nur einen Kriegsmarschall zum Innehalten in philosophischer Reflexion zu bringen vermochte. Ob sie es wirklich tat, wissen wir explizit nicht.

Es besteht natürlich Hoffnung, dass mancher Höfling und manche Hofdame neben den zahlreichen Gesellschaftsverpflichtungen die Sentenzen eines La Bruyère und La Rochefoucauld hörte oder las, sondern auch einer Motettenaufführung und einem Orgelkonzert seine zerstreute Aufmerksamkeit schenkte. Ein wenig fühlte sich der unter anderem am italienischen Stil geschulte Kapellmeister Marc-Antoine Charpentier (1643 – 1704) auf dem Gebiet der Musik wie ein Rufer in der Wüste und sicher stand er auf der Seite der kritischen Dichter und Philosophen am Hof. Diese Position war es wohl am Ende, die ihm nach eigenen Worten mehr Verachtung als Freundschaft eintrug, nicht zuletzt bei Musikerkollegen.
Jenseits der religiösen Moralistik allerdings bewegen sich seine Weihnachtsmotetten. Sie geben der Feststimmung einen schlichten Rahmen und erinnern in ihrer Schlichtheit an die Zeiten alter Psalmodie, wie sie auch in Kirchen armen Landgemeinden verbreitet war, vermitteln aber gleichzeitig die anheimelnde Stimmung der Weihnachtsgeschichte, insbesondere durch ihre Einbeziehung melodiöser volksliedhafter Pastourellen, die Charpentier sehr häufig verwendete, und des in der Antiphontradition verwurzelten Dialogs zwischen Engeln und Hirten. Häufig gebraucht er in den rezitierenden Abschnitten den ostinaten Bass und bevorzugt neben sparsam fugierten Choreinsätzen ariengemäße einfache solistische Besetzung oder das Duett.

In den Jahren von 1990 bis 2004 unterzog sich der französische Musikverlag Minkoff unter Leitung von Hugh Wiley Hitchcock der großen und lohnenden Aufgabe, die sämtlichen – in der Bibliothèque nationale in Paris – erhaltenen Werke des zu Lebzeiten nur von wenigen verstandenen Hofkapellmeisters als Faksimiles in 28 Bänden herauszubringen. Sie geben gleichzeitig mit der Handschrift Einblick in die Arbeitsweise des Komponisten und sind im Internet teilweise verfügbar. Wer sich einmal in den stillen Tagen die Zeit nimmt, sich in seine schlichten und gleichzeitig ergreifenden Weihnachtsmotetten einzuhören, wird den Schöpfer der triumphal auffahrenden fanfarenartigen Ouvertüre des als Eurovisionsmelodie heute weltweit populären Te Deum kaum wiedererkennen …
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