Musikinstrumente aus Glas, sowohl angeschlagen als auch am oberen Rand mit befeuchteten Fingerspitzen berührt, blicken auf eine lange Geschichte zurück. Die ersten erhaltenen Anleitungen zum Spiel sind aus dem 17. Jahrhundert bekannt. 1677 veröffentlichte Daniel Schwenter in den Deliciae physico-mathematicae einen Hinweis, wie „eine lustige Weinmusica zu machen“ sei. Johann Gottfried Walther berichtete vom “Glas-Spiel “unter dem französischen Stichwort verrillon und nannte als Virtuosen den Schlesier Christian Gottfried Helmond. Walther bezog sich allerdings wie Johann Philipp Eisel nur auf angeschlagene Gläser, obwohl die alternative Spielweise längst bekannt war. Hier brachte der amerikanische Naturwissenschaftler Benjamin Franklin den Durchbruch mit einer neuen Bauweise, nachdem er ein Konzert mit den in Irland bereits populären “Musical Glasses” besucht hatte.

Christoph Willibald Gluck, bekanntlich einer der innovativsten Komponisten des 18. Jahrhunderts, kündigte am 23. April 1746 ein Konzert mit 26 wasserabgestimmten Gläsern im Londoner Little Haymarket Theatre unter Begleitung eines Kammerorchesters an. 1786 konstruierte Karl Leopold Röllig eine Klaviaturharmonika, 1983 erfand der Münchener Glasmusiker Sascha Reckert das Röhrenverrophon mit senkrecht in einem Holzkorpus stehenden Glasröhren. Die Länge nimmt zum Bass hin zu, so dass der Spieler sogar sechs- bis achtstimmige Akkorde greifen kann. Damit ist die gesamte Literatur auf die Glasharmonika übertragbar.
Jörg Widmann (geb. 1973) schrieb seine Komposition Armonica in den Jahren 2006-2007, nachdem er die Solistin dieses Abends, Christa Schönfeldinger, die in Wien ursprünglich Violinistin gewesen war, zum ersten Mal auf der Glasharmonika spielen gehört hatte. Sie war es auch, die 2007 mit den Wiener Philharmonikern unter Pierre Boulez sein Werk zur Uraufführung brachte. Als Komponist verfolgt Widmann, der auch mit seiner Oper Das Gesicht im Spiegel (2002/03) beim Konzertpublikum reüssierte, das Konzept einer prozessual offenen Form. Häufig thematisiert der als Konzertklarinettist tätige Komponist das Werden und Vergehen der Musik selbst, ein Konzept, zu dem der Klang der Glasharmonika in idealer Weise passt. Dabei kommt das Instrument, das übrigens dem Harmonium ähnlich mit einem Blasbalg betrieben wird, am Anfang und am Ende des orchestralen Werks zum Einsatz und harmoniert klanglich insbesondere mit der Harfe, deren Saiten teils mit Plektron angeschlagen werden, mit den hohen Tönen des Klaviers und dem Schlagwerk.
Das schwierige Werk wurde am gestrigen Donnerstagabend im Großen Haus des Erfurter Theaters vom gesamten Orchester einschließlich der zweiten Solistin, Claudia Buder am Akkordeon, virtuos dargeboten und der regelmäßige Taktstockschlag Rainer Mühlbachs, gebürtiger Dresdner und Leiter des Internationalen Opernstudios an der Oper Köln, führte sicher durch die metrisch und harmonisch hochkomplexen Strukturen des Werks bis zum vieltönigen Höhepunkt, mit dem das Geräusch des Zerbersten programmatisch dargestellt wird und darüber hinaus – über den letzten hörbaren Ton der am Ende übrigbleibenden Glasharmonika hinaus. Um auch ihr flüchtiges An- und Verklingen deutlich hören zu können, empfahl sich freilich ein Hörplatz auf der linken Seite des Parketts.
Für Mariane Kirchgeßner, die blinde Frau des Musikverlegers Heinrich Philipp Carl Bossler veranlasste Mozart 1791 nach einem Konzert, dem er beigewohnt hatte, eine Komposition, die die Grundlage ihrer weiteren zehn Jahre andauernden Virtuosenreisen mit dem Instrument bildete: das Quintett für Harmonika, Flöte, Oboe, Viola und Cello KV 617 und das Solo-Adagio KV 356, das im Anschluss an die Pause mit seinen sirrend-schwebenden und gleichzeitig glockenklaren Klängen gerade in den solistischen Passagen das ganze Haus bezauberte. Die Kammermusiker Martin Noth, Oboe, Joy Dutt, Flöte, Helmut Kirschner, Viola und Eugen Mantu, Violoncello sorgten für höchstmögliche Transparenz der melodischen Faktur und überspielten in ihren Parts den sphärischen Klang der Glasharmonika an keiner Stelle.

Gerahmt wurden diese Kompositionen am Donnerstagabend von zwei häufiger aufgeführten Werken der Wiener Klassik, nämlich der Sinfonie g-Moll KV 183 aus der Feder des erst achtzehnjährigen W.A. Mozart und Beethovens Sinfonie Nr. 5 c-Moll op. 67. Nach seiner inspirierenden Begegnung mit Joseph Haydn 1773 beschritt der bislang am italienischen Vorbild orientierte Mozart mit der g-Moll-Sinfonie neue Pfade, was an der Heterogenität des Werks mit dem Septimsprung im Eingangssatz Allegro con brio, den schroff verkürzten fugierten Teilen des Allegro-Schlusssatzes und den häufigen Synkopierungen deutlich wird. Gerade diese Elemente und die energische Seite des “Stürmers und Drängers” Mozart arbeitete Rainer Mühlbach deutlich heraus. Lediglich im langsamen Satz gelang es dem Orchester nicht ganz, die gleichmäßige leichte Schwebung, die dem Andante hier angemessen ist, zu realisieren.
Dem revolutionär-auftrumpfenden und gleichzeitig tragischen Impetus der abschließenden 5. Sinfonie Beethovens kam die deutliche Akzentuierung der vorwärtstreibenden fugierten Passagen und der lauten Unisono-Partien entgegen. Vor dem Hintergrund einer Zeit, in der Europa von Napoleons Vorstößen erschüttert wurde, eignet ihr tatsächlich der dunkle aufrüttelnde Gestus wie ihn das Philharmonische Orchester Erfurt unter ihrem Gastdirigenten mit Verve und in großer Geschlossenheit umzusetzen wusste. Das Konzert wird am heutigen Abend um 20 Uhr wiederholt.
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