Bekanntlich sind die Übergänge zwischen Zitaten und Allusionen oder Anspielungen in der Musik(nachahmungs)geschichte fließend. Will man die allerdings sehr deutlichen Zitationen von volksmusikalischem Liedgut in Mahlers 1. Sinfonie D-Dur nun dem allgemeinen Einfluss bestimmter Melodien oder deren Symbolhaftigkeit auf sein Werk zuschreiben oder als ausschließlich bewusst eingesetztes Erinnerungsmotiv mit dem bloßen Ziel der augenzwinkernden Ironisierung verstehen? Im ersteren Fall wäre auch schon die bloße Übernahme exotischer Rhythmen wie in Ravels Bolero, die übrigens für diesen Tanz viel zu langsam sind, ein Zitat …

Es gibt natürlich Fälle ohne Zahl, in denen die scheinbar schlechte Absicht, Fremdes als eigenes zu verkaufen, lediglich harmlose Übung ist: Das Parodieverfahren bezeichnete vom Ende des 17. bis zum Anfang des 19. Jahrhunderts die Umgestaltung eines musikalischen Werks, um es für andere Zwecke verfügbar zu machen oder anderen Klangvorstellungen anzupassen. Diese Umgestaltung kann eine neue Textunterlegung sein oder auch eine rein musikalisch-kompositorische. Bach nutzte beispielsweise die Kontrafaktur sehr häufig: Eine geistliche Kantate mit ernstem Gestus konnte in ein heiteres antik-mythologisches Libretto umgemünzt werden, ohne auch nur eine einzige Note in der musikalischen Faktur zu ändern, Hauptsache, die Verssilben konnten angepasst werden – im Falle Bachs allerdings so, dass die Beziehung zur jeweiligen musikalischen Absicht dennoch passte. Schon in der frühen Barockzeit war es bei Orgelkomponisten Usus, die Sopranstimme einer Choralmelodie als Bass-Melodie als Basis für ein eigenes, oft sehr virtuoses Werk, zum Beispiel eine Fantasia zu nutzen.
Etwa seit der Wiener Klassik ging man weniger unbekümmert vor: Zitate dienten häufig der Ehrung eines Meisters. So brachte Beethoven in der 22. Nummer seiner Diabelli-Variationen ein melodisches Fragment aus Mozarts Don Giovanni unter, der Bach-Choral Es ist genug taucht in parodistischer Absicht bei Alban Berg und Bernd Alois Zimmermann auf, Strawinsky griff auf Pergolesi zurück, um die Eigenart der Zeit um 1800 gewissermaßen „auratisch“ zu charakterisieren, das Gleiche versuchte auf etwas subtilere Art Poulenc, wenn er – anachronistisch genug für seine Epoche – mit seinem Concert champêtre ein launig-heiteres Cembalokonzert teils in Barock-, teils in Rokoko-Manier für seine Freundin, die Cembalistin Wanda Landowska komponierte. Bei den beiden letzten Beispielen kann man von Zitaten im engeren Sinn allerdings kaum mehr sprechen.

Wie bei Mahler gehen auch bei Schönberg Melodien aus rustikaleren Sphären mit ironischer Zielsetzung in die Kunstmusik ein, etwa durch die Verwendung des Liedes O du lieber Augustin in seinem 2. Streichquartett op. 10. Eine Fülle von Zitaten aus älterer Musik findet sich auch in den 1960er Jahren als Gegenreaktion zur seriellen Musik, zum Beispiel bei Henri Pousseur, Mauricio Kagel und Karlheinz Stockhausen. Manchmal geht es nicht nur um Ironie, sondern geradezu um eine groteske Verzerrung des Überlieferten. Schon Haydn setzte in einer seiner Symphonien (welche war es?) bewusst besonders kindlich-einfache Melodien aus den ersten Stunden einer Klavierschule oder aus dem Kinderlied ein, vielleicht sogar, um das erwachsene Publikum auf den Arm zu nehmen?
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